Seit vier Wochen ist es schon nicht mehr möglich Konzerte live anzuschauen. Seitdem sind für mich bereits acht Konzerte ausgefallen: ein Recital von Yuja Wang, zwei Konzerte von Lucas und Arthur Jussen sowie passend zur Osterzeit: zweimal die Johannes-Passion und dreimal die Matthäus-Passion. Dieses Jahr hätte das Leiden besonders intensiv werden sollen und tatsächlich ist es besonders intensiv geworden. Nur nicht so, wie gedacht.
Viele Häuser bieten in dieser pandemischen Zeit die Möglichkeit Konzerte und Opern live zu streamen; aber es hat mich bisher nie begeistert mir Konzerte ins Wohnzimmer zu holen. Zu sehr liebe ich das Ereignis in einem Konzertsaal oder einer Kirche zu sitzen und gespannt auf die ersten Takte zu warten. Und der erste Takt der Matthäus-Passion versetzt mich in eine ganz besondere Stimmung, die dann durch die ganze Passion hinweg trägt.
Nun ist jetzt aber nicht daran zu denken, sich mit dreitausend anderen Menschen in eine Kirche zu setzen, um die Matthäus-Passion zu erleben. Also habe ich doch mein DVD-Regal durchsucht und siehe da: die Matthäus-Passion taucht darin gleich zweimal auf. Einmal eine live-Aufnahme vom 5./6. April 2012 aus der Thomaskirche in Leipzig und einmal eine live-Aufnahme vom 30. März und 1. April 2012 aus dem Concertgebouw in Amsterdam.
Begonnen habe ich an Karfreitag mit der Aufnahme aus der Thomaskirche, also dort, wo die Matthäus-Passion das erste Mal erklungen ist. Gesungen hat der Thomanerchor damals noch unter Georg Christoph Biller, gespielt das Gewandhausorchester Leipzig. Solisten waren Christina Landshamer (Sopran), Stefan Kahle (Altus), Wolfram Lattke (Evangelist), Martin Lattke (Tenor), Klaus Mertens (Jesus) und Gotthold Schwarz (Bass). Interessanterweise hatte das Gewandhausorchester die gleiche Idee und man konnte diese Aufnahme gestern hören: Osterprogramm des Gewandhausorchesters.
Der Vorteil einer Aufnahme ist, dass man dicht dabei sein kann, Sänger und Musiker ganz nah erleben kann, und man sieht auch den Dirigenten einmal von vorn, sieht, dass er quasi die ganze Passion mitsingt. Gerade in der Thomaskirche ist es so, dass es nur ganz wenige einigermaßen akzeptable Plätze auf der Empore gibt – der Großteil der Plätze ist zu Hörplätzen degradiert. Natürlich ist der Klang in der Kirche hervorragend, aber ich sehe den Musikern eben auch gern beim Spielen zu, sonst kann ich mir auch eine CD anhören.
Sehr schön fand ich Georg Christoph Biller dirigieren zu sehen. Ich mochte sein Dirigat sehr und fand es sehr schade, dass er 2015 aus gesundheitlichen Gründen als Thomaskantor aufhören musste. Toll war es auch die Thomaner aus dieser Zeit nochmal zu sehen. Das waren die Jungs, über die auch die Dokumentation zum 800jährigen Bestehen des Chores gedreht wurde und auch die Jungs, die ich damals öfter live gehört habe.
Tatsächlich hatte der Thomanerchor für mein Dafürhalten damals eine Hoch-Phase. Er kam danach stimmlich nicht mehr an diese Größe heran. Nach einer Tief-Phase ist er jetzt aber wieder auf einem guten Weg.
Das Besondere an der Aufführung war, dass alle Nebenrollen (z.B. Judas oder Hohepriester) von Thomanern selbst gesunden wurden und nicht von den Solisten. Das gibt dem Werk eine viel stärkere Lebendigkeit. Ich weiß nicht, ob das aktuell in Leipzig noch so praktiziert wird – in Dresden bei den Kruzianern leider nicht.
Besonders war auch, dass drei ehemalige Thomaner als Solisten auftragen und einer der Solisten heute Thomaskantor ist.
Es fiel auf, dass die Tenor-Arien nicht vom Evangelisten gesungen wurden, sondern ein weiterer Solist engagiert wurde – der Bruder des Evangelisten. Beides ehemalige Thomaner und beide ausgezeichnet. Wolfram Lattke hat den Evangelisten wunderbar gesungen – ohne zu viel Pathos – und sein kleiner Bruder Martin die Tenorarien ebenso.
Jesus wurde von Klaus Mertens gesungen, den ich schon oft gehört habe. Und er hat mich auch bei dieser Aufführung nicht enttäuscht.
Christina Landshamer ist eine tolle Sopranistin. Ich mochte ihr Timbre sehr! Sehr gern möchte ich sie wieder hören!
Gotthold Schwarz war früher neben seiner Tätigkeit beim Thomanerchor auch als Konzertsänger unterwegs. Heute ist er Thomaskantor nach Georg Christoph Biller und jetzt wird bereits sein Nachfolger gesucht. Gotthold Schwarz hat die Bass-Arien gesungen und eindrucksvoll gezeigt, dass er ein ausgezeichneter Sänger ist.
Die Alt-Rolle wird in Leipzig oft von einem Altus, also einem Countertenor in Altstimme, besetzt. So auch diesmal. Gesungen hat Stefan Kahle, der kurz davor noch im Chor selbst mitgesungen hat. Jetzt sind gerade die Alt-Arien der Matthäus-Passion recht zahlreich und anspruchsvoll. Da stellt sich die Frage, ob so ein junger Sänger diese Aufgabe gut meistern kann? Er hat brilliert! Selbst mir, der kein großer Fan der Altus-Stimmen ist, hat sein Gesang ganz ausgezeichnet gefallen! Lediglich das Duett mit dem Sopran (So ist mein Jesus nun gefangen) fand ich nicht so ausgeglichen.
Insgesamt stelle ich also fest: die Solisten dieser Aufführung waren allesamt herausragend!
Zum Orchester kann ich gar nicht so viel sagen. Das Gewandhausorchester Leipzig gehört zu den besten Orchestern Deutschlands und sie haben auch hier makellos gespielt. Die Solisten waren durchweg ausgezeichnet.
Insgesamt also eine Aufführung, die man gesehen haben sollte, herausgegeben von accentus music.
Was mich aber letztlich doch etwas enttäuscht hat, war der Klang. Ich muss natürlich sagen, da ich bisher selten klassische Werke über DVD bzw. Blu-ray gesehen und gehört habe, kann ich das nur begrenzt beurteilen. Die Blu-ray wurde mit DTS HD Master Audio 5.1 aufgenommen und ich habe eine Mittelklasse-Anlage über die ich sie im 5.1 Sound abgespielt habe. Aber ein Kirchensound kam beim besten Willen nicht auf. Klanglich blieb das Werk für mich etwas flach.
Aber hier spielt für mich natürlich die gesamte Atmosphäre rein und da kann ein Wohnzimmer eben nicht mit einer Kirche mithalten – selbst wenn ich diesmal besser gesehen habe, als sonst.
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